Sie lebten
wie im Paradies, im Schlaraffenland, oder einfach wie die
Maden im Speck, die zwei Mädchen. Jedenfalls am ersten Tag
ihres gemeinsamen Campingabenteuers. Da wurden sie von ihren
Müttern mit allen möglichen Leckereien versorgt, damit es
ihnen ja nur an nichts fehlen möge.
Hanna
und Sibylle genossen diese unerwartete Fürsorge, zumal sie
nur das Essen betraf, die beiden Mädchen aber ansonsten tun
und lassen konnten, was sie wollten.
Und wie
sowas aussah, das war für Hanna sonnenklar: Abends artig schlafen
gehen, wie sie es zuhause mußte, das fiel ja wohl flach. Wozu
zeltete man schließlich, wenn man nicht bis in die tiefe Nacht
irgend etwas unternahm - und sei es nur, bei Taschenlampenlicht
sich die unheimlichsten Geschichten zu erzählen. Und natürlich
hatte sie daran gedacht, den einen oder anderen Ausritt mit
Faxi zu machen - ohne Mamas Wissen und wenn es ging auch ohne
Sibylle. Nur, wie sie es anstellen sollte, Sibylle zu entkommen,
das wußte sie selbst noch nicht. Auf keinen Fall wollte sie
mit ihrer Freundin Streß haben. Im Notfall mußte sie eben
mit Sibylle verhandeln und gewisse Kompromisse eingehen. Das
wäre aber immer noch besser gewesen, als gar nicht mit Faxi
auszureiten. Doch dann entwickelte sich alles ganz schnell
und unerwartet günstig für Hanna.
Als sich
die Mädchen für ihre erste gemeinsame Nacht in freier Natur
in ihr Zelt zurückgezogen hatten, kam endlich die Zeit, wo
man sich im Schein der Taschenlampe leise tuschelnd seine
großen Geheimnisse anvertraute. Das ging natürlich nur, wenn
man richtig dick befreundet war und auch nur allein nachts
in einem Zelt!
Also
sprachen sie erst einmal ein bißchen über alles Mögliche,
über die Macken der Eltern, über die tollsten Starposter in
der Bravo und auch über die doofen Klassenkameraden. Doch
als es um die Klassenkameraden ging, konnte man Sibylles Worten
schon entnehmen, daß sie ihrer Freundin irgend etwas ganz
aufregend Geheimnisvolles anvertrauen wollte. Hanna begriff
zuerst gar nicht den Sinn, als Sibylle plötzlich sagte: "Du,
Hanna, weißt du schon das Neueste? Ich gehe seit dem letzten
Schultag mit Janny." "Ey, toll", sagte Hanna spontan, verschluckte
sich dann aber fast an ihrer eigenen Luft und blickte Sibylle
ganz entgeistert an: "Was hast du gesagt? Du gehst mit Janny?"
Sibylle nickte und ihre Augen strahlten, wie nur die Augen
von verliebten Mädchen strahlen konnten. Das machte Hanna
unsicher und gleichzeitig verspürte sie ein wenig Eifersucht
in sich aufsteigen. Janny war ein Supertyp. Der Mädchenschwarm
in ihrer Klasse. Blonder Bürstenschnitt, Ohrenstecker, coole
Klamotten und immer gut drauf. Und ausgerechnet den hatte
sich Sibylle geangelt! Da mußte man ja neidisch werden! Auf
jeden Fall schien in der Schule eine ganze Menge passiert
zu sein, wovon Hanna nichts mitbekommen hatte. Sie fragte
sich, ob es wirklich so gut war, wenn sie nur noch ihren Faxi
im Kopf hatte. Vielleicht rauschte das Leben ja schon, ohne
daß sie es merkte, an ihr vorbei und plötzlich war für sie
von den Jungs keiner mehr übrig. Sie wußte ja nicht einmal,
ob die Jungen aus ihrer Klasse sie überhaupt hübsch fanden.
Jedenfalls hatte sie noch keiner von denen geküßt!
Doch
ehe Hanna sich weiter mit solchen Gedanken und Zweifeln plagen
konnte, sagte Sibylle etwas, das Hanna wie gerufen kam für
ihre eigenen Pläne: "Du Hanna, Janny möchte sich gern morgen
mit mir treffen...", sie druckste ein wenig herum, weil sie
nicht wußte, ob sie Hanna vor den Kopf stoßen würde mit dem,
was sie jetzt von ihr verlangte, "...ich habe mich mit ihm
verabredet. Aber es darf keiner wissen; und ich gehe auch
allein hin. Du kannst nicht mit." Sie blickte Hanna unsicher
an und fügte eilig hinzu: "Ist aber nur morgen, weil meine
Mutter nicht da ist und mein Vater ins Krankenhaus muß. Die
anderen Tage machen wir dann alles zusammen, versprochen.
Bist du mir böse deswegen?"
Hanna
antwortete nicht sofort. Es war schon frustrierend, wenn die
beste Freundin einen so einfach wegen einem Kerl im Regen
stehen ließ! Andererseits, etwas Besseres konnte ihr doch
gar nicht passieren! Also schluckte sie tapfer ihren aufkeimenden
Neid herunter und sagte: "Mensch, ist ja prima! Toll, daß
du dir den Janny geangelt hast!" Dann stupste sie Sibylle
heftig gegen den Arm und sagte verschwörerisch: "Brauchst
dir keine Gedanken machen wegen mir. Ich verrate dich bestimmt
nicht. Freundinnen müssen schließlich zusammenhalten."
Sibylle
hatte nicht soviel Verständnis von Hanna erwartet und drückte
sie übermütig vor Freude an sich: "Das ist ja so toll von
dir! Du kannst dir gar nicht vorstellen wie sehr ich mich
auf Janny freue. Er ist ja so'n Supertyp!" Hanna nutzte Sibylles
Hochstimmung aus und sagte: "Ich habe morgen auch was vor.
Ich sage es dir, aber nur, wenn du mir schwörst, daß du mich
auch nicht verrätst." "Na klar! Ich schwöre" sagte Sibylle
nickend. Egal was Hanna tun wollte, sie würde ihr jeden Schwur
leisten, solange sie nur ungestört mit ihrem Janny zusammensein
konnte. "Was willst du denn machen?" Hanna beugte sich zu
Sibylle hin: "Ich mache mit Faxi einen Ausritt. Allein. Mama
ist ja zur Zeit nur noch mit Thomas unterwegs und allein darf
ich nicht ausreiten. Aber ich hab' es schon mal gemacht und
es war megastark!" "Das ist aber ziemlich gefährlich", gab
Sibylle zu bedenken und zog ein sorgenvolles Gesicht. Wenn
Hanna nun etwas zustieß und sie hatte von ihrem heimlichen
Ausritt gewußt... was würde dann Hannas Mutter sagen? "Willst
du dir das nicht noch mal überlegen?" fragte sie vorsichtig,
"wenn du nun von Faxi fällst und dir was brichst?" "Mensch,
Sibylle", maulte Hanna, "jetzt redest du schon wie meine Mutter!
Ich finde das unfair, wenn du petzt. Dann verrate ich auch,
daß du dich mit Janny triffst." "So war das gar nicht gemeint",
lenkte Sibylle sofort ein, "ich hatte überhaupt nicht vor,
dich zu verpetzen." "Dann ist ja gut", antwortete Hanna etwas
beleidigt, aber schon nach wenigen Minuten war die Mißstimmung,
die sich zwischen die beiden Mädchen gelegt hatte, wieder
verschwunden. Sie steckten die Köpfe zusammen, tuschelten
und kicherten und freuten sich wie verrückt auf den nächsten
Tag.
Schon
als Hanna Faxi sattelte, spürte sie, daß ihr Liebling nicht
so ruhig war wie sonst. Er wich zur Seite aus, sobald er den
Sattel auf seinem Rücken spürte und auch die Trense schien
ihm heute zuwider. Hanna hatte jedenfalls große Mühe, Faxi
das gebrochene Metallmundstück zwischen die Zähne zu schieben.
Das Verhalten des Pferdes hätte Hanna Warnung sein müssen.
Natürlich wußte sie, daß auch Isländer keine stumpfsinnigen
Maschinen sind. Sie wußte, daß auch Islandpferde, wenngleich
sie im Charakter ruhig und ausgeglichen waren, ihre guten
und auch schlechten Tage haben konnten. Und wie es schien,
hatte Faxi heute einen nicht ganz so guten Tag. Aber Hanna
wollte ausreiten - auf Biegen und Brechen. Also ignorierte
sie einfach Faxis Stimmungslage, zog sich in den Sattel und
ritt vom Hof.
Die erste
Viertelstunde lieferte sich Faxi mit seiner Reiterin eine
ziemlich heftige Auseinandersetzung über den richtigen Weg.
Wollte Hanna nach rechts abbiegen, meinte Faxi, die entgegengesetzte
Richtung einschlagen zu müssen. Trieb Hanna ihn geradeaus,
versuchte er, die Abkürzung über den Rübenacker zu gehen.
Auch mißfiel es ihm, im gemächlichen Schritt den Berg zu erklimmen,
wo er doch viel lieber wie der geölte Blitz losgerannt wäre.
Hanna
standen bereits erste Schweißperlen auf der Stirn und die
Oberschenkel taten ihr weh. Für einen Augenblick überlegte
sie, ob sie das Unternehmen Ausritt lieber abbrechen sollte,
denn langsam wurde ihr etwas mulmig zumute. Doch, als hätte
Faxi die Gedanken seiner Reiterin erahnt, gab er den Kampf
gegen sie auf, schnaubte zweimal heftig und verfiel in einen
ruhigen, weichen Schritt. Auch Hanna fühlte, wie sich Faxi
zwischen ihren Schenkeln entspannte und atmete spürbar erleichtert
durch. Es würde doch noch ein schöner Ausritt werden. Da war
sich Hanna jetzt ganz sicher. Je näher die Zwei dem Wald kamen,
desto mutiger wurde Hanna. Hatte sie zunächst nur vorgehabt,
die bekannte Runde am Waldrand entlang zu reiten, so fand
sie diese Strecke auf einmal viel zu kurz. Faxi ging jetzt
viel zu gut, als daß sie den Ritt schon nach so kurzer Zeit
beenden wollte. Sie war wie berauscht von dem Duft, der von
den Feldern und Weiden herüberwehte, der wiegende Schritt
ihres Faxi gab ihr ein wohliges Gefühl. Hanna wünschte sich,
dieser Ritt würde nie mehr aufhören - jedenfalls nicht schon
nach einer halben Stunde. Also folgte sie dem Weg kurzerhand
geradeaus in den Wald hinein, anstatt abzubiegen und am Waldrand
entlang zu reiten. Sie machte sich keine Gedanken darüber,
wie sie wohl wieder zurück kam, denn sie kannte sich hier
überhaupt nicht aus. Aber allzu tief wollte sie ja nicht in
den Wald reiten und außerdem - wenn sie sich nicht vom Weg
entfernte würde sie schon irgendwo wieder auf freies Feld
gelangen.
So ritt
sie einfach weiter, mal trabte sie oder töltete, wo es sich
anbot, aber die meiste Zeit ließ sie Faxi im Schritt gehen
und sich auf seinem Rücken sanft hin und her schaukeln. Die
milde Luft und das leise Rauschen der Buchenblätter taten
ihr übriges, daß Hanna langsam aber sicher mit ihren Tagträumen
davonschwebte und kaum noch wahrnahm, was um sie herum passierte.
Als Hanna das plötzliche Aufblitzen aus den Augenwinkeln heraus
registrierte, eher unbewußt, denn wirklich, war es bereits
zu spät. Auch Faxi hatte den Blitz wahrgenommen und erschrak
sich heftig. So heftig, daß er einen gewaltigen Satz zur Seite
machte und dann einige Galoppsprünge nach vorn. Hanna verlor
das Gleichgewicht und stürzte mit einem spitzen Aufschrei
zu Boden. Noch im Fallen blickte sie zu Faxi, der aber sofort
stehenblieb und sich seiner Reiterin zuwandte. Es dauerte
ein paar Schrecksekunden, in denen Hanna regungslos am Boden
liegenblieb und versuchte, zu begreifen, was geschehen war.
Dann setzte sie sich auf und bewegte alle ihre Gliedmaßen
ein wenig. Gott sei Dank, es schien nichts gebrochen zu sein.
Aber ihr Oberarm schmerzte, und zwar heftig. Ein Blick verriet
ihr sofort, daß nicht nur der Ärmel ihres T-Shirts zerrissen,
sondern auch die Haut bis zur Schulter aufgeschürft war. Jetzt,
wo sie die Bescherung sah, tat ihr der Arm noch mehr weh.
Das Blut, was langsam aus der Wunde sickerte und die Schürfstelle
rot färbte, ließ Hanna zittern. Am liebsten hätte sie laut
aufgeschrieen. Aber wer sollte sie denn hören? Plötzlich stand
da dieses Mädchen neben ihr. Hanna hatte es nicht kommen sehen
und auch nicht gehört. Es war einfach da. "Ein Engel", dachte
Hanna erschrocken und verwundert zugleich. Das Mädchen bückte
sich zu ihr herunter: "Komm, ich helfe dir hoch." Vorsichtig
wurde sie unter die Arme gefaßt und hochgezogen. Hanna half
dem Mädchen, indem sie sich mit den Füßen abstützte. Als sie
stand, durchfuhr es sie wie ein Blitz: "Faxi!" Sie brauchte
sich keine Sorgen zu machen, denn Faxi stand keine zwei Meter
von ihr entfernt mit am Boden hängenden Zügeln und betrachtete
neugierig das seltsame Mädchenpaar. Hanna löste sich aus den
Armen des fremden Mädchens und stolperte auf Faxi zu: "Faxi,
mein Guter, ist alles in Ordnung mit dir?" Besorgt ging sie
um ihn herum, tastete seine Beine ab und vergaß für einen
Augenblick ihren eigenen Schmerz. Erst als sie überzeugt war,
daß sich Faxi keine Verletzung zugezogen hatte, nahm sie ihn
am Zügel und blickte zu dem fremden Mädchen hin. "Danke",
wollte sie gerade sagen, "danke, daß du mir geholfen hast."
Aber sie sagte es nicht, denn in dem Moment, wo sie den Mund
aufmachte, blitzte es wieder. Nicht so überraschend, denn
Hanna erkannte sofort die Ursache: Das Mädchen hielt eine
silberfarbene Thermoskanne in der Hand und das Sonnenlicht
brach sich darin. Hanna kombinierte schnell und dann sagte
sie aufgeregt: "Du... du bist schuld, daß ich von Faxi gefallen
bin. Du und deine Thermoskanne!" Das Mädchen riß die großen,
braunen Augen noch weiter auf. "Wieso? Wieso bin ich schuld,
daß du vom Pferd gefallen bist?" fragte das Mädchen verständnislos.
"Na deine Kanne", sagte Hanna, "diese blöde Thermoskanne hat
Faxi geblendet und er hat sich erschrocken. Ich konnte ihn
nicht mehr halten!" "Faxi? Heißt dein Pferd so?" Hanna nickte.
Das Mädchen trat auf Faxi zu und streichelte ihm die Nase.
Faxi schien es zu gefallen. "Das ist ein schönes Pferd", sagte
das Mädchen verträumt. "Jahaaa", echote Hanna, "das ist ein
Isländer!" Eifersüchtig drängte sie sich zwischen das Mädchen
und Faxi. "Was machst du eigentlich hier mit deiner komischen
Thermoskanne? Sammelst du Beeren?" Hanna verzog die Mundwinkel
zu einem spöttischen Grinsen. "Ich hole Wasser", antwortete
das Mädchen, "da unten ist eine Quelle." Sie deutete den Hang
auf der anderen Wegeseite hinunter. "Wozu brauchst du denn
Wasser?" fragte Hanna. Jetzt wurde sie doch neugierig. "Zum
Trinken natürlich!" Das Mädchen blickte sie fast empört an,
so als wollte sie sagen: "Wie kann man nur so was Blödes fragen!"
Aber das sagte sie dann doch nicht. Statt dessen musterte
sie Hannas Schürfwunde und meinte: "Mit dem Wasser könnte
ich auch deine Kratzer da am Arm ein bißchen sauber waschen,
bevor es sich entzündet. Sieht ganz schön übel aus." Erschrocken
faßte sich Hanna an den Arm: "Meinst du?" Das Mädchen winkte
ab: "Nein, so schlimm ist es nun auch wieder nicht. Warte
hier, ich bin gleich wieder da." Mit diesen Worten ließ sie
Hanna stehen, lief über den Weg und stolperte und rutschte
dann den Hang hinunter.
Hanna
blickte ihr hinterher. Dieses Mädchen... irgendwie sonderbar.
Warum lief sie hier mit einer Thermoskanne herum und holte
Wasser? Was hatte sie überhaupt hier verloren? War sie auch
mit einem Pferd unterwegs? Nein, natürlich nicht! Es war ja
weit und breit außer Faxi kein Pferd zu sehen. Hanna strich
ihrem Liebling durch die Mähne. So ganz allmählich wurde ihr
klar, was alles hätte passieren können. Ihre Knie begannen
zu zittern und sie mußte sich in das weiche Moos am Wegrand
setzen. Faxi hielt sie immer noch am Zügel, fest entschlossen,
ihn nicht weglaufen zu lassen. Aber der machte gar keine Anstalten,
sich auch nur einen Schritt von Hannas Seite zu entfernen.
Vielmehr hatte er den Kopf gesenkt und seine Lippen suchten
emsig den Waldboden nach Freßbarem ab.
Die Minuten
vergingen, ohne daß das Mädchen wieder auftauchte. Eigentlich
müßte ich aufstehen, mich auf Faxi setzten und auf dem schnellsten
Weg zurückreiten, dachte Hanna. Aber irgendwie fühlte sie
sich wie gelähmt und schaffte es nicht, vom Boden hochzukommen.
Außerdem brannte der Arm ganz fürchterlich und vielleicht
hatte das Mädchen ja recht, wenn es meinte, die Wunde müsse
ausgewaschen werden. Vielleicht würde sie ja eine Blutvergiftung
bekommen, wenn sie nicht sofort erste Hilfe erhielt. Hanna
begann gerade sich vorzustellen, wie sie, durch die Blutvergiftung
verursacht, jammervoll dahinsiechte, als das Mädchen plötzlich
wieder vor ihr stand. Hanna hatte sie auch dieses Mal nicht
bemerkt und wunderte sich, wie sie es schaffte, sich so leise
heranzupirschen. "Komm mit", sagte das Mädchen nur und zog
Hanna mit der freien Hand vom Boden hoch. Hanna ließ es mit
sich geschehen und folgte dem Mädchen. Faxi, dessen Zügel
wie angenäht in Hannas Hand lagen, trottete brav hinter Hanna
her. So bewegte sich die kleine Karawane schweigsam quer durch
den Buchenwald mit seinen hohen, alten Bäumen. Das Laub am
Boden, angesammelt über Jahre und Jahrzehnte, federte weich
unter Füßen und Hufen, kleine, am Boden liegende Äste knackten,
ab und zu wichen sie Baumstümpfen und Sträuchern aus. Dann
versperrte ihnen eine kleine Fichtenschonung plötzlich den
Weg. Das Mädchen orientierte sich nach links und nach ein
paar Metern entdeckte Hanna eine fast zugewachsene Schneise.
"Da müssen wir durch", sagte das Mädchen und zwängte sich
schon durch die dichten Äste. "Aber Faxi...", wagte Hanna
einen schüchternen Einwand, "wo willst du überhaupt hin?"
"Wir sind gleich da", erwiderte das Mädchen, "bind dein Pferd
doch einfach hier draußen irgendwo an." Das wollte Hanna allerdings
nicht! Also zog sie ihn hinter sich her und hoffte, er würde
nicht scheuen. Aber Faxi tat so, als habe er sein Leben lang
nichts anderes gemacht, als durch dichtstehende Fichten zu
gehen und folgte Hanna ohne Zögern.
Kaum
zwanzig Meter waren sie gegangen, als sie plötzlich einen
kleinen, von den Fichten umrahmten freien Platz erreichten,
auf dem eine verwitterte Waldarbeiterhütte stand. Das heißt,
eine richtige Hütte war es eigentlich gar nicht, sondern ein
alter Bauwagen, von dem die grüne Farbe schon zum großen Teil
abgeblättert war, mit rostigem Schornstein und platten Gummireifen.
"Das hier ist mein Zuhause", sagte das Mädchen stolz und drehte
sich mit einer raumgreifenden Handbewegung einmal um ihre
eigene Achse. "Du wohnst hier?" fragte Hanna ungläubig und
wähnte sich für einen Moment in einem Märchen. Das Mädchen
nickte: "Ganz genau!" Dann lachte sie und fügte einschränkend
hinzu: "Aber nur vorübergehend. Solange, bis Svenny kommt
und mich abholt." "Das verstehe ich nicht...", murmelte Hanna
tonlos. Das Mädchen lachte auf: "Geht dich eigentlich auch
gar nichts an. Aber, wenn du artig bist und schweigen kannst,
verrate ich dir ein Geheimnis. Obwohl...", sie legte den Kopf
zur Seite und sah Hanna nachdenklich an, "...eigentlich weiß
ich gar nicht, ob mein Geheimnis bei einem kleinen Mädchen
wie dir gut aufgehoben ist. Aber da du jetzt schon mal da
bist..." "Ich bin vierzehn", protestierte Hanna empört, "ich
bin kein kleines Mädchen!" Auch wenn das fremde Mädchen einige
Jahre älter zu sein schien, brauchte sie sich ihr gegenüber
nicht so hochnäsig benehmen. "Okay, okay, ich wollte dich
nicht kränken. Tut mir leid." Das Mädchen hob beschwichtigend
die Hände. "aber jetzt komm' endlich mit 'rein, deine Wunde
muß versorgt werden." "Die Wunde! Die Blutvergiftung!" schoß
es Hanna durch den Kopf. Hastig schlang Hanna Faxis Zügel
um die verrostete Deichsel des Bauwagens und folgte dem Mädchen
über eine schmale, teilweise bereits morsche Holztreppe in
den Wagen.
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