Das Versprechen
[08.02.2001 • Text: Roland Lange]

Versprechen muss man halten! Oder man gibt sie erst gar nicht.

So, oder so ähnlich hatte ich es eingebläut bekommen. Schon in frühester Jugend. Und diese Verhaltensregel hatte sich wie ein Angelhaken in mir festgesetzt. Zwar unternahm ich später immer mal wieder einen Anlauf, den Angelhaken herauszureißen, indem ich hier und da die Einlösung eines Versprechens zu umgehen versuchte, doch es nützte nichts. Ich hätte mir mit dem Haken auch gleich die Seele aus dem Leib reißen können...

Also verlegte ich mich darauf, ehe ich mich zu einem Versprechen hinreißen ließ, meinen ganzen Verstand zusammenzukramen und das Für und Wider abzuwägen, mit der Maßgabe, dass unter dem Strich immer mehr Für als Wider stand.

Dieses eine Mal jedoch, an jenem Heiligen Abend, war der Zugang zum Zentrum meiner Vernunft blockiert. Hördurs große, traurig dreinblickende Augen hatten, ebenso wie die Worte voller Sehnsucht, gesprochen von einem Pferdemaul, eine Lawine von Glückshormonen in mir losgetreten, die auch den letzten Zugang zu meinem Gehirn verschüttete. Was also tat ich in dieser Notsituation? Ich gab ein Versprechen, über dessen Auswirkungen ich mir ganz und gar nicht im Klaren war. Jedenfalls in dem Augenblick nicht, als ich Hördur antwortete:

"Natürlich, mein Guter, du bekommst einen Kumpel. Das verspreche ich dir!"

Erst Tage später, die festlichen Gefühle hatten sich verflüchtigt, und der weihnachtliche Mantel aus Barmherzigkeit war voller Mottenlöcher, dämmerte mir, auf was ich mich in jenem magischen Moment an Hördurs Behelfsbox eingelassen hatte.

Während meine Frau und meine Tochter immer noch in Jubelstimmung bis hin zu euphorischer Trance verweilten, übte ich mich in Selbstzerfleischung.

"Wie kannst du nur so ein Volltrottel sein! " fauchte ich mein Spiegelbild voller Verachtung an. "Wie kannst du nur auf das blöde Gelaber eine Pferdes hereinfallen? Warum musst du auch immer noch an das Märchen von den sprechenden Tieren an Heiligabend glauben? Tiere können nicht sprechen!

Was änderte diese späte Erkenntnis schon an meiner prekären Situation? Ich hatte Hördur nun mal fragen gehört, ob er einen Kumpel bekäme, war es nun Einbildung oder Wirklichkeit. Ohne jeden Zweifel hatte ich ihm daraufhin ein Versprechen gegeben, und das später auch noch meinen Lieben erzählt, frei nach dem Motto: "Tue Gutes und rede darüber!"

Jetzt einen Rückzieher zu machen, daran brauchte ich gar nicht zu denken, denn erstens war der besagte Angelhaken im Laufe meines Lebens fest mit meinem schlechten Gewissen verwachsen, und auch wenn jemand den Haken in einer Notoperation hätte entfernen können, so waren da doch immer noch meine beiden Frauen, die mich wahrscheinlich gevierteilt hätten, wäre ich von meinem Versprechen an Hördur abgerückt.

Also stellten sich mir zwei Fragen: Woher? Und Wohin?

Woher das Geld nehmen, um für Hördur einen Kumpel zu kaufen? Und wohin mit zwei Isis, wenn man selbst nur über ein Einfamilienhaus nebst kleinem Gemüsegarten, englischem Kurzhaarrasen und Hundezwinger (in der Regel unbewohnt) verfügt?

Gebirge türmten sich vor meinem geistigen Auge auf und ich hätte mir gewünscht, meine nächsten Angehörigen wären mit dem gleichen Problembewusstsein ausgestattet gewesen, wie ich. Doch die Gattin und ihre Tochter (manchmal auch meine) praktizierten die Leichtigkeit des Seins und nahmen mich mit meinen Sorgen irgendwie nicht so recht ernst. Während ich den jammernden, wehklagenden Miesmacher gab, waren sie schon längst in blinder Begeisterung damit beschäftigt, einen Kumpel für Hördur zu suchen.

Doch mit dem wachsenden Grad meiner Verstimmung bis an den Rand zur Depression zog auch bei meinen Frauen die Nachdenklichkeit ein und bekam sogar einen Hauch von Panik, als ihnen bewusst wurde, dass der Januar in den Februar hinüberwechselte und dieser wiederum in dem März eintauchen würde. Spätestens dann mussten wir eine grobe Ahnung haben, wo wir denn Hördur und seinen zukünftigen Kumpel unterbringen wollten. Dort, in seiner provisorischen Box konnte Hördur nun mal nur bis zum Frühjahr bleiben, das hatten wir so abgemacht. Und von einem zweiten Pferd war damals im November ohnehin nie die Rede gewesen.

Schlaflose Nächte bemächtigten sich unser, Übelkeit und Schüttelfrost bestimmten unsere Tage, unser Gang wurde schleppend und die Haut wächsern. Nur ein Wunder konnte uns noch helfen!

Und dann geschah dieses Wunder tatsächlich. Das heißt, eigentlich passierte gar nichts weltbewegendes. Es lief einfach nur ab, wie in jedem jämmerlichen Fernsehkrimi: Da zermartert sich das Kriminalisten-Duo über neunzig Prozent der Sendezeit die mehr oder weniger kahlen Häupter, ohne eine heiße Spur zu finden. Und in den letzten zehn Minuten plötzlich, beim Feierabendbier an der Theke oder beim Gute-Nacht-Schwätzchen mit der Freundin im kuscheligen Bett fällt dann in einem Nebensatz so eine belanglose Bemerkung, die beim Hauptkommissar etwa drei Sätze später alle Alarmglocken schrillen läßt.

"Sag das noch mal!" fordert er seinen Gesprächspartner oder seine Partnerin sofort ungeduldig auf.

"Was?" fragt er oder sie mit belämmerten Gesichtsausdruck und unser Hauptkommissar versucht ihn oder sie hastig an die Stelle ihres Gespräches zurückzutreiben, wo er oder sie jene ominöse Bemerkung gemacht hat.

Er oder sie wiederholt artig das Gewünschte und unser Hauptkommissar springt wie von der Tarantel gestochen vom Barhocker oder aus dem Bett und verlässt blitzartig die Szene. Das war dann die Lösung des Falles.

Ähnlich ging es mit der Lösung oder wenigstens der Teillösung unseres Falls vonstatten. Ich glaube, es war beim Geburtstagskaffee meiner Schwiegermutter. Zu solch einem Ereignis versammeln sich normalerweise immer viele Menschen, die normalerweise immer viel reden, also sich unterhalten. So war es auch bei Schwiegermuttern. Alle redeten, keiner hörte zu und alles waberte irgendwie im Raum herum, bildete eine gemütliche Geräuschkulisse. Das Unterbewusstsein jedoch ( das meine machte da keine Ausnahme) registrierte mehr, als die Ohren. Und plötzlich war es auch bei mir da, dieses elektrisierte Zucken drei Sätze später.

"Sag das noch mal", fuhr ich Tante Marie(chen) in die Parade, die sich gerade angeregt mit Schwiegermuttern unterhielt.

Ich erntete natürlich erstaunte Blicke:

"Was?"

"Na, hast du nicht eben was von riesigem Garten und Scheune und verpachten und so gesagt, Tante Mariechen?"

"Ach so, ja..." Ich sah an ihrem Gesicht, wie die Tante den Gesprächskilometerzähler um einige Meter zurückdrehte um dann zu der Erklärung anzusetzen, die mir und unserem Hördur, sowie seinem Kumpel in spe die Existenz retten sollte.

"Die Müllers, also das große Gartengrundstück vorn an der Bundesstraße, gleich gegenüber der Apotheke, na, du weißt schon..."

Ich wusste nicht. Hilfesuchend schaute ich meine Frau an. Die wusste natürlich sofort. Klar! Schließlich war sie die Einheimische, ich dagegen hatte eingeheiratet, besaß also nicht diese spontane und differenzierte Ortskenntnis.

"Mensch, bist du blöd!" leitete meine Frau denn auch sofort eine Übersetzung von Tante Mariechens Ortsbeschreibung ein. Sie wusste halt, wie man mit mir zu reden hatte. Und tatsächlich formte sich auch vor meinem geistigen Auge das Bild des Grundstücks, an dem ich schon so oft achtlos vorbeigelatscht war: Alte Scheunengebäude und angrenzend ein riesiger Obstgarten. Apfelbäume, Birnbäume, Pflaumenbäume und alles inmitten einer sattgrünen Wiese. Ein nahezu ideales Terrain für unseren Hördur und seinen zukünftigen Kumpel!

"Und das soll zu pachten sein?" fragte ich mit verhaltener Freude nach. Ich war mir nicht ganz sicher, wie viele Stationen diese Information schon durchlaufen hatte, ehe sie (leicht verfälscht) bei Tante Mariechen gelandet war.

Die Tante schwor Stein und Bein, dass die Müllers Teile der Scheune, den Garten und einen kleinen Stall, der auch zu dem Ganzen gehörte, verpachten wollten. Die Mutter der Müllers, die dort allein in dem Wohnhaus residierte, habe es ihr selbst gesagt. Und die müsse es ja wissen.

Keine Woche später rückten wir den Müllers auf den Pelz. Wir entdeckten sie irgendwo im Osten, in so einem kleinen Kaff, wo sie sich eine neue Existenz aufgebaut hatten. Sie fanden nichts dabei, uns Obstwiese, Scheune und Stallungen zu überlassen, wenn nur wieder alles bewirtschaftet werden würde, weil, der armen Mutter könne man die Arbeit wohl nicht mehr zumuten.

Das fanden wir auch und der Pachtvertrag war im Null-Komma-Nix unterschrieben. Nachdem unsere größte Not, nämlich für Hördur ein neues Heim zu finden, aus der Welt war, nachdem sich auch der rosarote Jubelschleier etwas von unseren Augen verzogen hatte, waren wir endlich in der Lage, unsere Errungenschaft etwas genauer unter die Lupe nehmen. Vielleicht hätten wir das früher tun sollen.

Der Stall war ein Loch, so dunkel, dass selbst ein Höhlenbär darin Panik bekommen hätte. Ein Pferd würde da keinen Schritt hinein tun. Unser Hördur, dieser Angsthase, schon gar nicht! Und auf dem Scheunenboden, dort wo unser Heu und Stroh einmal lagern sollte, sah es aus, wie nach einer Gasexplosion. Aber als mich gerade neuerliche Schwermut überfallen wollte, war es wiederum meine Frau, die mir mit ihren aufmunternden Worten Kraft gab:

"Du schaffst das schon", meinte sie zuversichtlich, "du haust hier einfach eine Wand aus dem Stall, dann kommt da mehr Licht rein und der Eingang ist auch nicht mehr ganz so schmal. Und den Boden, den hast du doch ruckzuck aufgeräumt."

Sie musste wohl bemerkt haben, wie meine Kinnlade die Flucht nach unten antrat. Also versuchte sie, etwas Tröstendes zu sagen:

"Dafür ist aber die Wiese mit den Obstbäumen wunderschön und die Betonplatte für den Mist ist auch schon da. Einfach ideal, um Pferde zu halten."

Zugegeben, sie hatte nicht ganz unrecht. Die Wiese mit ihren Bäumen hatte es mir auch angetan. Aber wie sollte ich, der laut seiner Mutter mit zwei linken Händen aufgewachsen war und daher auch nur sehr selten einmal einen Hammer mit Erfolg ins Ziel gebracht hatte, diese Herkulesarbeit bewältigen?

Es brauchte einige Tage, die ich jammernd, klagend und fluchend verbrachte, ehe ich mich auf meine Wurzeln und meine Gene besann. Schließlich war mein Vater Zimmermann gewesen, und ein guter noch dazu! Also musste doch zumindest ein klitzekleiner Teil seiner Erbmasse auch mir zugute gekommen sein und nicht alles meinem Bruder! Zögernd und widerwillig näherte ich mich endlich Hammer, Säge, Axt und anderem fremdartigen Werkzeug, überwand meinen Ekel und begann mit der Arbeit. Und da spürte ich sie, die Gene meines Vaters! Dort, wo mich noch vor Kurzem eine Bärenhöhle das Fürchten lehrte, entstand ein Offenstall, so hell und luftig, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte. Ein Paradies für Hördur.

Mit stolzgeschwellter Brust fuhr ich zu Hördur hinaus, fand ihn eingepfercht in seiner Behelfsbox, und teilte ihm aufgeregt mit, dass sein neues Heim fertiggestellt sei und nur noch einige Kleinigkeiten, der Paddock zum Beispiel, zu bauen seien.

"In ein paar Wochen kannst du umziehen", sagte ich und blickte verträumt ins Leere.

"Schön. Und was ist mit meinem Kumpel?"

"Den bekommst du auch..."

Viel zu spät begriff ich, dass ich etwas gehört hatte, was ich nie hätte hören dürfen. Es war schließlich nicht mehr Heiligabend, schon lange nicht mehr! Also, wie zum Kuckuck war es möglich ... ?

Nach einigen Augenblicken nahe am Wahnsinn rappelte ich mich auf und beschloss, weder in die Klapsmühle, noch über Los zu gehen und auch keine Viertausend Mark einzuziehen. Nein, ich würde für mich zu behalten, was ich soeben gehört hatte. Und ich nahm mir vor, nie wieder etwas aus einem Pferdemaul zu hören. Zum Glück hielt sich auch Hördur daran und quatschte mir nicht weiter die Ohren voll...


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