Hördurs
Weihnachtswunsch
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[12.12.2000
• Text: Roland Lange] |
Da
sage noch einer, Tiere haben keine Seele! Da behaupte noch einer,
Pferde seien dumm! Alles dreiste Unterstellungen! Hördur jedenfalls
war weder seelenlos noch hohl im Kopf! Immerhin spürte er viel
früher als wir, dass etwas nicht stimmte.
Während der ganzen Weidesaison war uns nicht aufgefallen, dass
Hördur Seelenqualen litt. Klar, wir hatten schon gesehen, wie
allein sich unser "Schätzchen" oft auf der Weide tummelte, während
die Schrepp-Isis ganz "dicke" miteinander taten. Wir hatten
auch bemerkt, dass Hördur uns immer voller Sehnsucht auf der
Weide erwartete um uns dann, wie ein Schoßhündchen, nicht von
der Seite zu weichen. Wir fanden das jedoch richtig niedlich!
Das ist wahre Liebe, dachten wir gerührt.
Ach, hätten wir nur früher gemerkt, wie es um ihn stand! Hätten
wir nur seine stummen Hilferufe wahrgenommen. Dann wäre nicht
alles so Hals über Kopf gekommen, was einfach kommen musste.
Wir verfügten eben nicht über die Fähigkeiten eines gestandenen
Pferdeflüsterers, hörten weder Flöhe husten, noch Isis weinen.
Stattdessen bastelten wir zusammen mit den Schrepps munter am
gemeinsamen Winterquartier für unsere drei mittlerweile zu Teddys
mutierten Freunde. Und als es dann an der Zeit war, siedelten
wir die Drei von den Weiten ihrer Weide um in die Enge ihres
Winterquartiers. Alles schien gut.
Doch es dauerte nicht mal eine Woche! Da war nicht nur der Himmel
über uns bleigrau und die Luft eisgekühlt. Auch zwischen unseren
Isis herrschten Gefrierschrank-Temperaturen. Und das war jetzt
sogar für die blindesten Isi-Besitzer unübersehbar.
Hördur war aus der gemeinsamen Tischgemeinschaft ausgeschlossen
worden, und Frau Schrepp, die an jenem schicksalsträchtigen
Tag Futterdienst hatte, musste ihm seine Heurationen abseits
der Futterraufe servieren. Wir waren entsetzt, als wir es hörten
und sahen. Wir fühlten uns gedemütigt und aufs Tiefste verletzt,
denn was man unserem Hördur antat, das tat man uns an! So jedenfalls
mussten wir uns nicht behandeln lassen! Von Menschen nicht,
und von Isis schon gar nicht! So nicht!!!
Es gab nur eine Lösung. Unsere Wege mussten sich trennen. Nein,
wir wollten uns nicht beruhigen! Nein, wir wollten unsere Meinung
nicht ändern! Nein...naja, vielleicht...also gut, eine Nacht
drüber schlafen. Aber keine Sekunde länger!
Wir schliefen in dieser Nacht dann aber nicht über die Sache,
sondern führten ein Telefonat mit etwa folgendem Inhalt:
"Du, Jens, wenn wir mal in Not wären, könnten wir dann von einem
Tag auf den anderen bei dir einen Unterstand für unseren Hördur
finden? - Nein, muss nichts Tolles sein. Er ist ja ziemlich
genügsam. - Wie? - Ja, ehrlich? - Toll, Jens. Danke!"
Dann schliefen wir doch noch ein Stündchen.
Der nächste Morgen brachte uns aber keine neuen Erkenntnisse.
Unsere Gemütsverfassung war ungefähr so stachelig, wie mein
Drei-Tage-Bart, und ausgerichtet auf Konfrontation. "Es hat
keinen Zweck mehr", war unsere einhellige Meinung und das Telefonat
mit Jens, unserem Kumpel aus vergangenen Tagen, machte uns Mut,
auch den letzten Schritt zu wagen. Also machten wir uns am späten
Nachmittag auf, um unsere Weidegemeinschaft aufzukündigen, indem
wir unseren Hördur einfach entführen wollten. Es hatte zu schneien
begonnen und ganz leise meldete sich in meinem Hinterkopf eine
mahnende Stimme, die mir zuraunte, dass ich nicht ganz bei Trost
sein könne, in dieser Jahreszeit mit Hördur von einem relativ
sicheren und gemütlichen Plätzchen in eine ungewisse Zukunft
umzusiedeln. Aber stur wischte ich den Gedanken vom Tisch und
gab mich stattdessen lieber meiner verletzten Eitelkeit hin.
Wie immer stand Hördur abseits seiner beiden ehemaligen Freunde
(von denen ich annahm, dass sie nie seine Freunde waren) und
wartete auf uns. Schnell hatten wir die nötigsten Utensilien
in unserm Auto verstaut. Meine Frau wollte damit zu Jens fahren
und ihn schon einmal schonend auf das vorbereiten, was da in
knapp zwei Stunden auf ihn zukommen würde. Diese zwei Stunden
waren die Zeit, die sie mir zugebilligt hatte, um unseren Hördur
durch den dunklen Winterwald zu geleiten, seiner neuen Bleibe
entgegen.
Auch wenn ich Hördur kurz darauf, wie schon so oft im zurückliegenden
Jahr, Halfter und Führstrick anlegte, so hatte diese anstehende
Wanderung doch so gar nichts gemein mit denen, die wir bisher
unternommen hatten. Hier handelte es sich eindeutig um Flucht!
Ja, wir waren auf der Flucht, und für einen kurzen Moment nahm
diese Flucht in meinen ausufernden Gedanken biblische Dimensionen
an. Doch hieß weder ich Josef, noch meine Frau Maria. Und Hördur
war kein Esel. Dennoch, mit einem Quäntchen dieser melodramatischen
Patina, die gewissen Hollywood-Schinken anhaftet, wollte ich
auch meine bevorstehende Wanderung überzogen wissen. Ich brauchte
das einfach, um unser Abhauen vor mir selbst nicht ganz so banal
erscheinen zu lassen.
Meine Frau erwartete mich bereits, als ich von den bewaldeten
Höhenzügen, die die letzten Reste Tageslicht verschluckten,
ins Tal einzog. Auch Jens stand dort und machte genau das Gesicht,
das jemand macht, der sich irgendwie aufs Kreuz gelegt fühlt
und auch noch selbst Schuld daran ist. Wie hätte der arme Kerl
nach unserem gestrigen Anruf aber auch ahnen können, dass wir
beabsichtigten, seine Hilfsbereitschaft schon binnen weniger
Stunden auszunutzen.
Jens tat mir gegenüber sehr gefasst, und wie ich meine Frau
kannte, hatte sie sicher mit einigen aufmunternden Worten versucht,
seine Seelenlage zu stabilisieren. Trotzdem bemerkte ich das
nervöse Flackern seiner Augenlider und ein leicht panisches
Zucken um seine Mundwinkel offenbarte mir alles, was er krampfhaft
zu verbergen versuchte. Er, der gelernte Zimmermann, Nebenberufslandwirt
und ausgewiesene Pferdefreund war eben auch nur ein Mensch und
konnte nicht zaubern. Sämtliche seiner Pferdeboxen waren belegt.
Also musste sein Reitplatz als erste Notunterkunft für Hördur
herhalten.
"Nur diese eine Nacht", so Jens' Versprechen, "gleich morgen
baue ich ihm eine Behelfsbox. Dort kann er bleiben, bis ihr
etwas Neues gefunden habt. Aber spätestens im Frühjahr müsst
ihr 'raus mit eurem Gaul. Dann brauche ich den Platz wieder!"
Wir verziehen ihm den "Gaul", wir schluckten auch die Box, obwohl
wir wussten, das Hördur schon früher einige beengte Unterkünfte
zerlegt hatte. Wir waren einfach nur froh, irgendwo untergekommen
zu sein. Und wenn wir Glück hatten, würde Hördur seine neue
Behausung heil lassen. Immerhin gab es noch andere Pferde in
seiner Nähe. So musste er sich nicht ganz und gar allein fühlen.
Die Tage vergingen, und nach einigen missglückten Ansätzen,
seinem Gefängnis zu entrinnen, ergab sich Hördur in sein Schicksal.
Jens hatte ihm die Aussicht nach und nach weitgehend vernagelt,
so dass er gerade noch den Kopf über die Boxenwände bekam. Das
war nicht schön, bewahrte unser "Schätzchen" jedoch davor, sich
in weiteren aussichtslosen Kletterversuchen über die bretternen
Hindernisse zu verschleißen. Immerhin, er bekam sein geregeltes
Fressen, er hatte seinen täglichen Auslauf auf dem Reitplatz
und er hatte uns, die wir ihn aufopferungsvoll versorgten. Dennoch,
wir wurden den Verdacht nicht los, dass er sich zurücksehnte
nach seinen alten Kumpels. Auch wenn er unter ihnen an den Rand
zur Magersucht gedrängt worden war, so schien ihm das immer
noch erträglicher gewesen zu sein, als das Leben in seinem jetzigen
Domizil mit diesen ganzen fremdartigen Pferdevolk, das sich
so gar nichts aus dem Boxendasein zu machen schien.
Dann war Heiligabend. Den Vormittag hatten wir damit verbracht,
Hördur zu reiten, zu pflegen und ihm einfach nahe zu sein. Der
Nachmittag gehörte allerdings den Kindern und dem erweiterten
Familienkreis. Da unterschieden wir uns in Nichts von anderen
Menschen. Aber unser Herz war dennoch nicht ganz bei der Sache.
Immer wieder huschten unsere Gedanken zu Hördur hinüber, der
kaum einen Kilometer Luftlinie entfernt das traurigste Weihnachtsfest
seines Lebens vor sich hatte. Das durfte nicht so sein!
Kurzentschlossen verabschiedete ich mich aus dem trauten Familienkreis
(unter den sehr feuchten Blicken meiner Frau, die gern an meiner
Statt gefahren wäre, sich aber in gewisse häuslich Pflichten
verstrickt sah), packte einen kleinen Sack Futtermöhren für
Hördur und einige Marzipanmöhren für mich ein und machte mich
auf den Weg.
Was war das eine Freude, als Hördur mich anrücken sah. Wahrscheinlich
war das erste Mal auf dieser Welt einem Pferd der Weihnachtsmann
erschienen. Ich griff in meinen Weihnachtssack und zog für Hördur
eine Futtermöhre und für mich eine aus Marzipan heraus.
"Frohe Weihnachten", murmelte ich und schob ihm wie auch mir
je eine Möhre ins Maul. Wie ich noch so kaute und in den sternenklaren
Himmel blickten, hörte ich plötzlich eine Stimme neben mir:
"He, Paule...haste nich 'n Freund für mich?"
Ich fuhr heftig zusammen, drehte mich erschrocken nach allen
Seiten um. Aber da war niemand. Nur Hördur stand dort und schaute
mich mit traurigen Augen an. Ich gab ihm eine weitere Möhre
und machte mir Gedanken darüber, ob in meinem Kopf noch alles
richtig tickte. Es konnte doch nicht sein, dass mich ausgerechnet
am Heiligen Abend der Geist dieses... dieses Moderators heimsuchte.
Ja, genauso hatte die Stimme geklungen: Wie die des heiseren
Moderators jener Show, in der irgendwie um Geld und Liebe gespielt
wurde!
Ich schüttelte ungläubig den Kopf und wandte mich wieder den
Sternen zu. Da war sie wieder, die Stimme:
"Paule, bitte...such' mir doch 'n Freund..."
Es war mehr ein Reflex, als eine bewusste Bewegung, die mich
zu Hördur herumfahren ließ. Das Pferd bewegte tatsächlich seine
Lippen! Kein Zweifel, Hördur hatte diese herzbewegenden Worte
gesprochen und plötzlich wurde mir alles klar:
Es war Heilige Nacht! Die Nacht, in der die Tiere sprechen konnten.
Nie hätte ich geglaubt, dass etwas dran sein könnte an diesem
alten Märchen. Bis jetzt, als Hördur mit mir redete. "Paule",
hatte er gesagt, "Paule!" Ich war gerührt und den Tränen nahe.
Er hatte mich mit meinem zweiten Vornamen, Paul, angesprochen.
Das hatte bisher noch niemand getan. Und er wünschte sich einen
Freund. Ich verstand. Überwältigt streckte ich meine Arme aus,
legte sie ihm um den Hals und drückte ihn ganz fest an mich:
"Natürlich, Hördur, du bekommst einen Freund. Schon sehr bald,
das verspreche ich dir. Und ein schönes, neues Zuhause sollst
du auch haben. Ehrenwort."
Ich ließ von Hördur ab. Er rieb kurz seine Nase an meiner und
dann sah ich, wie er lächelte. Zufrieden mit mir selbst und
erfüllt von dem Erlebnis dieser wundersamen Nacht machte ich
mich auf den Heimweg.
Es musste erst Heiligabend werden, ehe ich bereit war, zu sehen,
zu hören und zu verstehen, was mein Pferd im Innersten bewegte.
Nur eins begriff ich ganz und gar nicht:
Warum, um alles in der Welt, hörte sich Hördur, wenn er sprach,
so an, wie dieser Fernsehmoderator... dieser... dieser... verdammt,
wie hieß der doch nur? |
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