Heiße Eisen - blauer Zeh
[15.09.2000 • Text: Roland Lange]

Endlich war die Pferdefamilie komplett. Zu den beiden Isis der Familie Schrepp gesellte sich von nun an unser Hördur.

Das war uns ein Gelage direkt vor Ort auf der Weide wert. Alle, die unserer "Weidegemeinschaft" in der Aufbauphase zu Seite gestanden hatten, ob tatkräftig oder mit weisen Ratschlägen, waren eingeladen, unser kleines Paradies mit uns gebührend einzuweihen. Frau Schrepp entpuppte sich bei dieser Gelegenheit als begnadetes Talent in der Zubereitung tellerfertiger Gulaschsuppen über offenem Feuer, während ihr Gatte und ich die Versorgung der Truppe mit allerlei Getränken, hauptsächlich alkoholischer Natur, in die Hände genommen hatten.

Folgerichtig verlief der Abend unter sternklarem Himmel sehr stimmungsvoll, wir empfanden ein wohliges Gefühl inmitten unserer Freunde und Pferde und wussten: Jetzt gehören wir dazu; wir sind aufgenommen in die große Reiterfamilie, Abteilung Islandpferde.

Freude- und auch sonst ziemlich trunken fand ich (und nicht nur ich) irgendwann in der Nacht gerade noch den Weg zu den Zelten am nahegelegenen Bachufer, um schon viel zu wenige Stunden später dem nebelgrauen Morgen ins fiese Gesicht zu blicken. Nichts war geblieben von der Glückseligkeit des vergangenen Abends. Nur ein schwach vor sich hinglimmendes Lagerfeuer und ein paar halb leere Biergläser erinnerten an Vergangenes. Und dann waren da die drei müde grasenden Isis, die mich an noch etwas ganz anderes erinnerten:

"Hördur muss zum Hufschmied!"

Wer hatte es bloß geschafft, so einen idiotischen Termin zu machen? Ich war das jedenfalls nicht gewesen! Aber ich war es, der diesen Termin wahrnehmen musste! Und es war schon verdammt spät, und ich wusste doch gar nicht, wie man mit so einem Pferd überhaupt umgeht! Bis jetzt war alles nur Spiel gewesen, alles nur eine lächerliche Übung. Immer war jemand dabei gewesen, hinter dem man sich hatte verkriechen können. Aber hier und jetzt an diesem verfluchten Morgen, das war der Ernstfall, und ich war ganz allein auf der Welt, abgesehen von diesem Tier namens "Hördur", zu dessen Kauf ich mich in einem Anfall von geistiger Umnachtung hatte überreden lassen. Dabei wollte ich doch immer Schriftsteller werden, aber nie Pferdebesitzer!!!

Warum nur war meine Frau nicht da? Oder meine Tochter? Jetzt brauchte ich einmal ihren Beistand, und sie lagen zuhause in ihren Betten und schlummerten. Ja, ich wusste, ich hatte die Nacht auf der Luftmatratze freiwillig gewählt und meine Frauen, eingefleischte Campinggegner, gen Heimat ins weiche Bettchen ziehen lassen. Ja, ich erinnerte mich schwach, dass ich großspurig erklärt hatte, ich käme auch allein mit Hördur zurecht. Aber war das ein Grund, mich tatsächlich hier draußen in dieser Einöde mit nichts als drei Pferden und ein paar schnarchenden Trunkenbolden allein zu lassen?

Nach meinem Bad in Selbstmitleid (als Ersatz für die Morgentoilette) zeigte ich, bewaffnet mit Halfter und Führstrick, dem Schicksal die Zähne. Das Schicksal ließ sich dadurch nicht beeindrucken, sondern graste weiter friedlich vor sich hin und tat so, als gäbe es mich nicht. Erst, als sich das Halfter, von zitternder Hand geführt, seinem Kopf näherte, machte es eine kurze seitliche Ausweichbewegung und galoppierte einige Meter über die Weide, um sich gleich darauf in sicherer Entfernung wieder seinem Frühstück zu widmen.

Als mir der Kopf zu platzen drohte und mir der Schweiß in wahren Sturzbächen von der Stirn rann, hatte Hördur ein Einsehen. Willig ließ er sich das Halfter über den Kopf streifen, auch wenn ich das Gefühl hatte, hinter seinen listig funkelnden Augen ersann er eine neue Gemeinheit. Aber nichts geschah. Geduldig trottete er am Führstrick hinter mir her über die Weide, und er wurde erst wieder etwas zappelig, als wir schon ein gutes Stück des Weges gegangen waren, der uns zum Dorf führte, in dem der fahrende Schmied auf dem Bauernhof der Familie Kühn auf uns wartete. Jedenfalls dachte ich, dass er wartete. Stattdessen bekam ich eine Lektion in "Pünktlichkeit von Hufschmieden".

Eine geschlagene Stunde verharrte ich neben Hördur, der, angebunden an einem rostigen Haken an der Scheunenwand, zunehmend unruhiger wurde. Doch bevor mein Hördur sich zu guter Letzt noch als Entfesselungskünstler profilieren konnte, trudelte Hufschmied Rolf mit seinem klapprigen Ford-Transit ein und zog die ganze Aufmerksamkeit des Pferdes auf sich. Wahrscheinlich hatte Hördur einen derartigen Hufschmied noch nie erlebt. Neugierig folgten seine Blicke dem gemütlich summenden, kugeligen Etwas, das da seine schweren Werkzeuge aus dem Fahrzeug wuchtete, um seine Beine scharwenzelte und schließlich begann, ihm die Zehen mit Messer und Raspel zu maniküren. Danach wandte Schmied Rolf sich seinem Transit zu, versenkte seinen Oberkörper in das Fahrzeuginnere und förderte nach einigen Augenblicken intensiven Suchens vier Hufeisen, Hördurs neue Schuhe, zu Tage. Während er die Eisen in seiner kleinen Mikrowelle auf Temperatur brachte, informierte er mich ganz nebenbei und mit treuherzigem Blick darüber, dass sein Aufhalter das Handtuch geschmissen hatte und er meine Hilfe brauchte.

"Gut und schön", dachte ich, "aber erstens, was ist ein Aufhalter und zweitens, was habe ich damit zu tun?"

Etwas bedeppert stand ich da, klammerte mich an Hördurs Führstrick und betrachtete Schmiedens Hinterteil, das er mir zugewandt hatte, während er, mit der Zange eins der glühenden Eisen in der Hand haltend, durch seine Beine nach hinten blickte, in Erwartung meiner Hilfeleistung.

"Na los, ich kann nicht ewig warten", grummelte Schmied Rolf.

"Was soll ich denn machen?" fragte ich unsicher.

"Mann, aufhalten", schnaubte Rolf, "reich mir einfach das Bein deines Pferdes 'rüber, klar?"

Klar! Einfach Pferdebein 'rüberreichen. Nichts leichter als das! Vorsichtig tastete ich nach Hördurs Vorderbein. Es zuckte und ich zuckte auch - zurück. Zweiter Versuch - das Eisen in Schmiedens Hand begann zu erkalten - ich griff beherzt zu und zog an Hördurs Bein. Es war wie festbetoniert. Er wollte partout nicht auf drei Beinen stehen (hätte ich auch nicht gewollt...).

"Komm, Hördur, sei ein braves Pferd", säuselte ich. Aber Hördur wollte kein braves Pferd sein.

Schmied Rolf riss der Geduldsfaden:

"Komm, ich mach das selber. Geh mal zur Seite."

Ich wich zurück. Gedemütigt, erniedrigt. Ich hatte versagt. Nichtskönner, Amateur würden sie mich nennen. Auslachen, verspotten würden sie mich. Ich war geschlagen. Am Ende! Am liebsten wäre ich weggelaufen. Aber ich durfte nicht weg. Musste aushalten und die Schmach ertragen.

Bibbernd und betend stand ich neben meinem Pferd, wusste nicht so recht, wohin ich mit meinen Händen sollte, stammelte beruhigend auf Hördur ein, was absolut nicht nötig war und hoffte, dass dieser Kelch möglichst bald an mir vorüber gegangen war. Als dann der stinkende Qualm verbrannten Horns in meine Nase stieg, wurde mir leicht übel, ganz im Gegensatz zu meinem Hördur, der wie es schien, diese beißende weiße Wolke als wahren Wohlgeruch aufnahm.

Schmied Rolf meinte es gut mit mir. Als es ans Nageln ging, gab er mir eine zweite Chance:

"Los, halt noch mal. Hast ja jetzt gesehen, wie ich sein Bein nehme."

Hätte ich bloß genauer hingesehen! Aber ich wollte es dieses Mal nicht vermasseln. Todesmutig griff ich zu, lupfte Hördurs Bein in die Höhe, es rutschte mir aus den Händen und landete mit voller Wucht auf meinem segeltuchbeschuhten rechten Fuß.

"Aua, Scheiße!" hätte ich am liebsten gebrüllt. Aber so geistesgegenwärtig war ich dann doch, dass ich nichts weiter herausließ als meine Augen, die vor Schmerz sicher einen halben Meter von meinem Kopf abstanden. Den Klageruf jedenfalls schluckte ich herunter, und als Rolf, der irgend etwas, aber nicht alles mitbekommen hatte, fragte: "Is' was?", antwortete ich nur mit einem verkniffenen "Nö..." Noch einmal wollte ich nicht versagen. Ich würde durchhalten bis zum bitteren Ende.

Das kam dann auch, irgendwann, viele, viele Stunden später. Rolf gab ein befreiendes: "So, fertig!" von sich und der Albtraum war vorbei. Ich lebte noch. Ich hatte es überstanden! Und zum Abschied sagte Rolf nicht etwa: "Such' dir das nächste Mal einen anderen Schmied, du laienhafter Trottel!" sondern: "Wenn etwas mit dem Beschlag sein sollte, ruf mich an. Ich komme dann sofort vorbei."

Ich nickte mit leicht verklemmten Lächeln und sah ihm nach, als er mit stinkender Dieselfahne den Hof verließ. Auch ich machte mich, so schnell es als Halbinvalide eben ging, auf die Socken. Die Zähne fest zusammengebissen, schritt ich, meinen Hördur im Schlepptau, vom Kühn'schen Hof. Musste ja niemand merken, dass etwas mit mir nicht stimmte.

Als wir die letzten Häuser des Dorfes hinter uns gelassen hatten, vor uns nur noch Feld, Wald und Wiesen lagen und ich mir vor Schmerzen bereits die Lippen durchgekaut hatte, gab ich den aufrechten Gang auf. Noch wenige Meter schleppte ich mich vorwärts, dann blieb ich stehen. Ich beugte mich nach unten, zog das Leinentuch-Schuhwerk von meinem lädierten Fuß und bestaunte, zusammen mit Hördur, den süßen Ballon, der sich neben den vier kleineren Zehen aufgebläht hatte und ursprünglich auch ein Zeh gewesen war. In allen möglichen Blautönen schimmerte der Ballon in der Sonne. Schön anzusehen war er, doch mir versetzte er einen heftigen Schreck. Und dann tat ich, was ich schon die ganze Zeit hatte tun wollen: Ich brüllte meinen Schmerz hinaus, dass es von den weit entfernten Kalkfelsen widerhallte.

Hördur hingegen, der Verursacher allen Übels, zeigte keine Reue, sondern stand nur da und grinste frech...


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