Auf
dem Hohl(z)weg
 |
[17.11.2000
• Text: Roland Lange] |
Wir
nahmen unser reiterliches Schicksal in die eigenen Hände. Wozu
brauchten wir Unterricht? Hördur war nicht gemeingefährlich
und wir waren nicht doof! Außerdem wollten wir keine Profis
werden, sondern Spaß haben.
Dieses bisschen reiterliche Grundausbildung, das uns fehlte,
wollten wir uns unten im Dorf holen. Da gab es eine Pferdezüchterin,
die uns ihr sogenanntes Dressurviereck gern zur Verfügung stellte
und auch hier und da mit ein paar Ratschlägen aushelfen wollte.
Das musste für den Anfang reichen!
So trottete denn fast jeden Tag (es war Sommer und wir hatten
Urlaub) eine kleine Karawane von unserer Weide hinab ins Dorf.
Das sah ungefähr folgendermaßen aus: Vorneweg das Ehepaar Schrepp,
reitend auf seinen beiden Isis, die Zigaretten lässig im Mundwinkel
baumelnd. Sie konnten sich das leisten, denn sie hatten erstens
die große Ahnung vom Reiten und zweitens nicht so viel Schiss
wie wir. Richtig cool sahen sie aus, wie sie so relaxed ins
Dorf hineinzogen.
Dahinter kamen mit einigen Metern Abstand meine Frau und ich.
Meine Frau mit dem Fahrrad vorneweg, dann Hördur und ich zusammen
Seite an Seite, nur verbunden durch dieses Etwas, genannt "Führstrick",
das ich krampfhaft festhielt. Ab und zu saß meine Tochter auf
Hördur und ließ sich durch die Sonne schaukeln.
In dieser schmerzhaften Lehrzeit sammelte ich breitgetretene
Zehen, wie andere Leute Briefmarken. Es war ein unheimlich schwieriges
Unterfangen, meine Schritte mit denen von Hördur zu koordinieren.
Ich weiß bis heute nicht, wie mein Fuß ständig unter seinen
Huf geraten konnte. Irgendwann gewöhnte ich mich aber an den
Schmerz, und das schillernde Blau meiner Zehen stand mir eigentlich
auch recht gut. Also beschloss ich, Hördurs Attacken auf meine
Füße keine Beachtung mehr zu schenken. Genau in diesem Augenblick
schwand auch sein Interesse, mir weh zu tun.
Meine Frau wurde von Tag zu Tag mutiger und schon bald folgten
ihre ersten Ausritte in das umliegende Hügelland, gemeinsam
mit Frau Schrepp. Ich ließ ihr gern den Vortritt, denn ich war
überhaupt nicht mutig und mein Hasenherz pochte ganz gewaltig,
wenn ich an meinen ersten Ausritt dachte, der mir noch bevorstand.
Natürlich mochte ich das nicht zugeben und irgendwann gingen
mir schließlich die Ausreden aus. Keine Stunde später fand ich
mich, genötigt durch die holde Weiblichkeit in meinem unmittelbaren
Umfeld auf Hördurs Rücken wieder. Zaghaft und äußerst ungeschickt
versuchte ich, die Bestie zwischen meinen Beinen zu dirigieren.
Hördur, der lebensgefährliche Durchgänger, spürte genau, wer
da auf seinem Rücken herumturnte und... nee, er tat eben nicht
das, was so ein Pferderambo dann üblicherweise tut! Ganz sanft
schaukelte er mich stattdessen bergauf, bergab, nahm es mir
nicht übel, dass ich die Zügel als Haltegurte benutzte, sondern
trottete seinen Weg und brachte mich wohlbehalten zur Weide
zurück.
Ich war allein ausgeritten! Ich war ein Held! Was hatte ich
nicht alles zu erzählen über meinen Ritt durch die unwirtliche
Wildnis, fast einen Kilometer von der Weide entfernt und ganz
auf mich allein gestellt. Gut eine Viertelstunde hatte meine
Runde gedauert, eine Ewigkeit, in der sich jedes Ohrzucken,
jedes Schnauben und Schweifschlagen meines Pferdes tief in meine
Seele eingegraben hatte und jetzt eine ausführliche Würdigung
verdiente. Ich hatte mein Leben riskiert! Ich war geritten!
Aber es sollte nicht mein letzter Ritt gewesen sein!
Die Ausritte wurden länger, die Reiter - mich einmal ausgenommen
- wurden mutiger, und die Geschichten wurden schauriger. Nun
waren wir ja insgesamt sechs reitende Menschen (drei Schrepps,
meine Frau, meine Tochter und ich) in unserer Weidegemeinschaft,
hatten aber nur drei Isis zur Verfügung. So ergab es sich, dass
immer eine Gruppe von maximal drei Personen ausritt. Diese setzte
sich in der Regel aus ein bis zwei Schrepp-Frauen (Mutter oder
Mutter und Tochter) und meiner Frau zusammen. Ich lungerte derweil
auf der Weide herum oder blieb gleich zuhause. Doch ganz egal,
was ich auch tat, den Horrorberichten der Frauen nach überstandenem
Ausritt entkam ich nicht. Ob es Machtkämpfe mit dem widerspenstigen
Pferd waren, ob wilde Galoppaden oder unkontrolliertes Durchgehen,
immer waren die Frauen mit letzter Not einem Desaster entronnen.
Sie erzählten es mir mit glühenden Wangen und leuchtenden Augen.
Ich empfand diese Nachrichten stets als Balsam für meine zarte
Seele und freute mich schon auf meinen nächsten Ausritt. Konnten
ich doch gewiss sein, dass ich einen Feuerstuhl besteigen würde.
Aber je öfter ich Hördur ritt und je mehr ich merkte, wie wenig
Hördur dazu neigte, den Schauergeschichten Rechnung zu tragen,
desto mutiger wurde auch ich. Und dann passierte eines Tages
diese Geschichte, die mich mit Hördur an den Rand des Abgrundes
führte...
Es war ein Tag, wie jeder andere der Tage, die ich bisher zu
einem Ausritt zusammen mit Herrn Schrepp genutzt hatte. Wie
immer war unser Ziel die Jagdhütte oben im Wald. Wie immer ritten
wir eine Weile den geteerten Feldweg entlang, bis zu der Gabelung,
die uns links, wie auch rechts zum Fuße des ziemlich steilen
Anstiegs führte, der, gesäumt von mächtigen Buchen und Fichten,
auf einer Hochebene endete. Von dort ging unser Ausritt weiter
über gut ausgebaute Waldwege mit weit ausladenden Kurven und
sanften Wellen, bis wir schließlich unser Ziel, das Jagdhaus
erreicht hatten und nach einer kurzen Pause den zweiten Teil
unseres Rundkurses bestritten.
An jener Gabelung unten im Tal hatten wir uns bisher immer für
den linken Ast der Gabel entschieden. Das lag daran, dass wir
als Anfänger lieber den steileren, linken Anstieg hinaufgaloppierten,
um auf der Hochebene dann Pferde zwischen den Beinen zu haben,
die keine Lust mehr verspürten, mit uns durchzubrennen oder
ähnliche Zicken zu machen. Auf dem Rückweg schließlich nahmen
wir den Abstieg über die rechte, mit sanftem Gefälle nach unten
führende Astgabel.
Soweit also die Theorie und bisher auch gängige Praxis bei unseren
Ausritten. Nur an diesem unglückseligen Tag mussten wir es genau
anders herum machen. Wer von uns beiden die Idee hatte, Herr
Schrepp oder ich, was uns auch immer dazu bewog, wen interessiert
das im Nachhinein schon? Tatsache ist und bleibt, dass wir einen
wunderbaren Ausritt hatten, den sanften Anstieg über die rechten
Ast der Gabelung inklusive, bis zu jenem Augenblick, als der
Abstieg zurück ins Tal begann. Und zwar über den steilen linken
Ast der Gabel!
Dieser Ast war nichts anderes, als ein tief ausgefahrener Hohlweg,
der sich hakenschlagend am steilen Abhang hinauf-, oder aus
unserer Warte gesehen, hinabschlängelte. Bedrohlich starrte
mir diese furchige, mit Steinen übersäte Röhre entgegen, wirkte
auf mich wie der Eingang zur Hölle und ich fragte mich, wieso
mir das von unten, aus der entgegengesetzten Richtung gesehen,
noch nie aufgefallen war. Ich hätte absteigen und mein Pferd
führen sollen. Stattdessen hockte ich wie angeschraubt auf Hördur,
den Rücken gekrümmt, die Beine krampfhaft hochgezogen, so dass
die Knie beinahe meine Kinnspitze berührten und mit den Händen
umklammerte ich die Zügel, als wären es Eisenstangen. Nein,
an Absteigen war in diesem Zustand gar nicht zu denken, zumal
Herr Schrepp auf seinem Isi bereits munter den Weg hinunterstolperte
und ich nicht anders konnte, als ihm zu folgen. Das heißt, Hördur
konnte oder wollte nicht anders. Er marschierte einfach los
und ich musste mit.
"Laaangsam, gaaaanz laaaangsam", murmelte ich beschwörend und
zog Hördur mittels Zügel und Trense die Maulwinkel bis an die
Ohren.
Mit jedem Schritt von Hördur trocknete meine Kehle mehr aus
und mein "laaangsam" verkam zu einem brüchigen Krächzen. Derweil
mühte sich mein Pferd, den starren Fesseln in seinem Maul auszuweichen
und dabei noch das Gleichgewicht zu halten - bei einer Fracht,
wie mir, gar nicht so einfach.
Dann nahte die erste und schärfste Kurve im Hohlweg. Herr Schrepp
hatte sie bereits genommen, vor mir lag sie noch. Zu meiner
Rechten fraß sich die Kurve mit ihrem inneren Radius in den
Steilhang hinein. Die linke, äußere Kurve jedoch war von einer
gut zwei Meter hohen Böschung begrenzt, hinter der sich durch
das Blattwerk der mächtigen Buchen der Himmel abzeichnete. Und
auf diese Böschung steuerte Hördur zu. Entsetzt musste ich feststellen,
dass Hördur ausgerechnet jetzt seinen Rhythmus verlor und seine
Schritte immer schneller wurden.
Wilde Gedanken rasten mir durch den Kopf, schneller als jeder
Formel-1-Rennwagen und schneller als jeder Bob im Eiskanal.
Und eben dieser Gedanke an einen Bob gab mir die Hoffnung, dass
sich auch mein Hördur so verhalten würde wie das Gefährt auf
Kufen, wenn es durch eine Steilkurve rast. Immerhin hatte ich
in diesem Augenblick noch so viele meiner sieben Sinne zusammen,
dass ich mich leicht nach rechts legte (es war eine Rechtskurve)
und verstärkt am rechten Zügel zerrte.
Hördur jedoch kannte sich mit Bobbahnen und Steilkurven überhaupt
nicht aus. Er hatte schlicht und einfach keine Ahnung, wie eine
solche Kurve zu bewältigen war. Also gab er trotz meiner sehr
eindeutigen Zügelhilfen noch einmal richtig Gas, orientierte
sich stur geradeaus und hatte mit ein, zwei mächtigen Sätzen
das Hindernis "Böschung" überwunden.
Ich blickte ins Nichts! Steil fiel der buchenbestandene Berghang
vor mir in endlose Tiefen ab. Schmal war der Böschungsgrat,
auf dem Hördur einige Atemzüge lang verharrte. Keine Gelegenheit,
irgendwelche Wendemanöver zu starten. Dann setzte sich Hördur
auch schon wieder in Bewegung, und zwar in die Richtung, die
unweigerlich ins Verderben führte. In meinem Kopf herrschte
Leere. Ich war nicht fähig, einem klaren Gedanken zu fassen.
Dazu blieb auch überhaupt keine Zeit. Allein der Instinkt beherrschte
mein Tun in den folgenden, dramatischen Sekundenbruchteilen:
Hördur machte zwei Schritte vorwärts, kam durch das Gewicht
auf seinem Rücken ins Rutschen. Ich nahm im Augenwinkel zu meiner
Linken eine junge Fichte wahr (wie kam da plötzlich eine Fichte
hin?), ließ die Zügel los und griff nach ihr. In panischer Leidenschaft
umklammerte ich den Stamm des Baumes und drückte mich heftig
an seine borkige Rinde. Sollte Hördur doch in sein Verderben
rennen. Ich wollte leben!
Doch Hördur rannte nicht. Hatte ich einen Herzschlag lang noch
das Gefühl, Hördur würde mir zwischen den Beinen wegrutschen,
während ich an meiner Fichte hing, so schien er sich im gleichen
Augenblick zu stabilisieren. Jedenfalls gab er seine Selbstmordabsichten
auf und änderte die Richtung. Plötzlich stand er quer zum Hang,
ich spürte ihn wieder voll und fest zwischen meinen Beinen,
und dann kreiste er in engem Radius mit vorsichtigen Schritten
um die Fichte, bis er wieder auf dem schmalen Böschungsgrat
stand, allerdings mit Blick in den Hohlweg hinein. Erst jetzt
wich die Leere aus meinem Kopf, mein Blick wurde wieder klarer
und ich ließ von der Fichte ab. Mit zitternden Händen ergriff
ich die Zügel, und Hördur, souverän und trittsicher, trug mich
die Böschung hinunter und zurück in den Hohlweg.
Mein Begleiter, Herr Schrepp, wie so oft an diesem Tag weit
voraus, blieb von dem Geschehen in seinem Rücken unberührt.
Als ich später die Daheimgebliebenen mit meiner schier unglaublichen
Geschichte überraschte, war er daher alles andere, als ein brauchbarer
Zeuge.
"Ende gut - alles gut"? So etwas gibt es nur im Kino, oder im
Märchen. Nicht bei mir! Also fügte ich dem Vorfall im Hohlweg
als krönenden Abschuss und auf brettebenem Waldweg noch einen
gepflegten Sturz an. Hördur, müde, geschwächt und unkonzentriert
nach dem gerade überstandenen Abenteuer kam ins Stolpern, knickte
mit den Vorderbeinen ein und machte so für mich den Weg frei.
Ich nutzte die Gelegenheit und hob zu einem gekonnten Salto
mortale ab. Über Hördurs Kopf hinweg führte meine kurze Luftreise
und endete im Staub zu Füßen meines Pferdes. Ich nahm's gelassen,
erhob mich wie ein Mann, lächelte meinen Schreck und meine Schmerzen
weg, ergriff mein Pferd am Zügel und führte es nach Hause.
Es tat gut, wieder einmal ein paar Schritte selbst zu gehen.
|
|